Artikel vom 03.07.2008




Vor einer „Erosion des Rechtsstaates“ warnt der Präsident des Niedersächsichen Oberverwaltungsgerichts, Herwig van Niewland. In der Sendung „Frontal 21“ erklärte er dazu am 01.07.2008 im ZDF: „Die Möglichkeiten des Bürgers, sich zur Wehr zu setzen, werden schleichend immer geringer“. In Niedersachsen gibt es keine Möglichkeit mehr, Widerspruch gegen einen Abgabenbescheid einzulegen, vielmehr muss sofort Klage eingereicht werden. Die verwaltungsrechtlichen Vorverfahren sind unter dem Deckmantel des „Bürokratieabbaus“ ebenso abgeschafft worden wie in 9 anderen Bundesländern auch. Das Widerspruchsverfahren hatte der Verwaltung zuvor die Möglichkeit gegeben, eigene Fehler unbürokratisch zu korrigieren ohne dass Gerichte bemüht werden mussten. In Sachsen-Anhalt blieb das Vorverfahren im Bereich des Kommunalabgabenrechts erhalten. Allerdings müssen die Bürger hier nun bei einer Ablehnung des Widerspruchs mit zT sehr deutlichen Gebühren rechnen. Der Staatsrechtler Jan Ziekow vom deutschen Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung erklärt in der Sendung: „Aus meiner Sicht sollte man die positiven Aspekte des Widerspruchsverfahrens stärken, es ausbauen – insbesondere die Möglichkeit für die Bürgerinnen und Bürger, mündlich zu Wort zu kommen, mit ihren Problemen gehört zu werden - stark aufrüsten, anstatt das Widerspruchsverfahren abzuschaffen. Das ist aus meiner Sicht kein gewinnbringender Weg für einen Rechtsstaat.“ Herwig von Niewland fürchtet, „dass das Vertrauen in den Rechtsstaat beim Bürger langsam aber sicher schwindet.“

Vor allem im Abgabenrecht schreitet die Erosion des Rechtsstaates in erschreckendem Maße voran. Erst unlängst berichtete die Mitteldeutsche Zeitung (Ausgabe vom 20.06.2008) von sogenannten „Nacherhebungen“ im Bereich des AZV Hettstedt. Ähnlich wie schon vor 2 Jahren in Schmerzbach erhalten Bürger, die längst einen Anschlussbeitrag entrichtet hatten und glaubten, dass damit ihre Beitragsschuld endgültig erledigt sei, auf einem einen weiteren Beitragsbescheid. Der verwunderte Bürger fragt sich, wie so etwas unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten möglich ist.

1. Das OVG Sachsen.-Anhalt hat die Möglichkeit der Beitragsnacherhebung aber tatsächlich anerkannt. Dass insofern gegen das rechtsstaatliche und dem Beitragsrecht immanente Prinzip der "Einmaligkeit der Beitragserhebung" verstoßen wird, umgeht das OVG durch die einfallsreiche Konstruktion, dass mit dem ersten Beitragsbescheid offenbar nur ein "Teil" des vollen Beitrags erhoben worden sei und der Verband damit berechtigt wäre, jederzeit -innerhalb der Verjährungsfrist den vollständigen Beitrag nachzuerheben. Andere Obergerichte in den Bundesländern lehnen solche abenteuerlichen Konstruktionen ab und verweisen darauf, dass die Voraussetzungen zur Erhebung von Teilleistungen in den Kommunalabgabengesetzen klar geregelt seien und insbesondere einen entsprechenden ausdrücklichen Vorbehalt schon im ersten Bescheid verlangen (so der VGH Baden-Württemberg). Die "kreative" Rechtsauslegung unseres OVG führt dazu, dass Bürger praktisch niemals mehr Rechtssicherheit haben werden, ob der verlangte Beitrag auch der endgültige ist. Auch im Hinblick auf die jetzigen Nacherhebungen ist für die Bürger in Hettstedt nicht einmal vorhersehbar, ob das nun der Schlusspunkt war. Denkbar ist, dass in 10, 15 oder 20 Jahren nochmals Nacherhebungen und danach nochmals solche in weiteren 30 Jahren folgen und so fort. Warum ist das so?

2. Das ist so, weil das Institut der Verjährung praktisch bedeutungslos geworden ist. Denn die Verjährungsfrist beginnt frühestens mit Inkrafttreten der 1. wirksamen Beitragssatzung. Wer 4 Jahre lang keinen Bescheid erhalten hat oder vor 4 Jahren den ersten Bescheid kann eben nicht sicher sein, dass die Forderung des AZV dann tatsächlich verjährt ist. Denn niemand kann vorhersehen, ob die zugrunde liegende Satzung auch wirklich wirksam war. Sollte ein Gericht in 12 Jahren Fehler erkennen und die Satzung aufheben (was ja nicht so selten geschieht), dann beginnt das Spiel von Neuem. Nacherhebungen haben zB in Schmerzbach mehr als 10 Jahre nach Erlass der Ursprungsbescheide stattgefunden. Der Grundsatz der Rechtssicherheit ist damit ebenso aufgehoben wir der Grundsatz der Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit. Der Rechtsstaat erodiert in Sachsen-Anhalt.

Der Vertrauensschutz für den Bürger ist offenbar keiner Erwähnung mehr wert. Welcher politische Schaden damit angerichtet wird, ist kaum wirklich zu ermessen. Der längst verstorbene, renommierte Verfassungsjurist Prof. Dr. Günther Dürig schreibt in seinem Grundgesetzkommentar zu Art. 20 GG, also zum Rechtsstaatsprinzip:

"Es geht eigentlich nur um die ganze simple Erkenntnis, dass faktisch irreparable 'Fehlleistungen' bei der Anwendung des Gesetzmäßigkeitsgrundsatzes auch rechtlich letztlich in der Risikosphäre desjenigen hängen bleiben, dessen Einflusssphäre sie entstammen."

Mit anderen Worten - bezogen auf das Abgabenrecht: Wenn der Verband bei der ersten Bescheiderteilung irrtümlicherweise annimmt, der volle Beitrag werde erfasst, geht das zu seinen Lasten und der rechtsstaatliche Grundsatz der Vertrauensschutzes für den Bürger ist selbstverständlich höher anzusiedeln als das fiskalische Interesse des Verbandes. Solche natürliche, streng rechtsstaatsorientierte Betrachtungsweise ist heutzutage leider vor dem Hintergrund massiv fiskalpolitischer Gesetzesinterpration zunehmend in den Hintergrund gedrängt. Der Verwaltungsfehler wird unter leichthändiger Aufgabe des Rechtsstaatsprinzips zu Lasten des Betroffenen "repariert". Der Bürger wird zunehmend zum Normempfangenden "Untertan" der dem Staat und seinen Gesetzen vor allem eben dieses "Unterworfensein" schuldet (so einmal das OVG Münster).
Schade, dass nicht erkannt wird, dass diese Entwicklung die Menschen politisch vollkommen entfremdet und sie damit den radikalen Parteien und Bewegungen damit zur leichten Beute werden. Sie verlieren den "Glauben" an das rechtsstaatliche Prinzip und der Staat ist nicht mehr "ihrer". Sie bleiben verbittert zurück und identifizieren sich nicht mehr mit dem System, sie wenden sich im besten Falle den Nichtwählern zu.

Wer einmal einen Beitragsbescheid ohne jeden Hinweis auf eine Teilforderung erhalten hat, darf unter Vertrauensschutzgesichtpunkten davon ausgehen, dass mit der Zahlung das Beitragsschuldverhältnis engültig erloschen ist. Das ist ein eherner Grundsatz des Beitragsrechts. Es ist unerträglich, es rechtlich zu ermöglichen, den Betroffenen auch nach 10, 15, 20, 50 oder 100 Jahren nochmals mit einer "Nacherhebung" zu überziehen. Wer das befürwortet, sägt an den Grundlagen unseres lange Zeit eigentlich sehr bewährten Rechtssystems. Leider sägen unsere obersten Landesrichter kräftig mit.

3.Ein weiteres Beispiel für die Erosion rechtsstaatlicher Betrachtungsweise ist die Aufgabe des Tatbestandsprinzips im Abgabenrecht. Das Prinzip besagt, dass ich einen Sachverhalt nur dann unter eine Rechtsfolge stellen kann, wenn im Zeitpunkt des Geschehens die entsprechende Norm „gilt“, also in Kraft getreten ist. Rückwirkungen sind nur unter engen Grenzen erlaubt.

Justiz und Gesetzgeber haben sich aber für das Beitragsrecht einen erstaunlichen Kniff einfallen lassen. Satzungen, welche als rechtliche Voraussetzung für den Erlass eines Beitragsbescheides unabdingbar sind dürfen auch noch 20 Jahre nach dem Bau der Abwasserleitung oder nach dem Abschluss der Straßenausbaumaßnahme erlassen werden, ja sogar 50 Jahre, ja sogar 100 Jahre, es gibt keine zeitliche Grenze dafür. Der Grund ist, dass – so wurde es in juristischen Elfenbeintürmen ausgeklügelt – dass erst mit Erlass der Satzung die Beitragspflicht konkretisiert würde und damit überhaupt erst entsteht. Mit andren Worten: Die Baumaßnahme ist wirklich erst dann abgeschlossen, wenn die zugehörige Satzung auch erlassen ist, so dass sich das Problem der Rückwirkung nicht stellt. Lapidar begründet das OVG Sachsen-Anhalt diese Auffassung damit, dass der Gesetzgeber keine „Reihenfolge“ vorgeschrieben habe, so dass die Satzung durchaus auch nach Abschluß der Maßnahme erfolgen könne. Dabei kommt es unter Beachtung des Tatbestandsprinzips gar nicht darauf an, ob der Gesetzgeber vorschreibt , wann eine Norm vorliegen muss, denn dieses ergibt sich schlicht aus dem genannten Prinzip. Dem Landesgesetzgeber war diese Rechtsprechung so unheimlich, dass er zumindest für das Straßenausbaubeitragsrecht festlegte, dass eine Satzung schon vor der Entscheidung über den Ausbau vorliegen müsse. Diese Regelung gilt seit dem 21.04.1999. Im Bereich des Abwassers gilt aber nach wie vor, dass Satzungen auch noch nach vielen Jahren erlassen werden können und Enkel und Urenkel mit überraschenden Beiträgen überzogen werden können, für Maßnahmen, von welchen ihre Großväter einmal profitiert haben.

Die Liste der Beispiele könnte fortgesetzt werden. Zu befürchten ist, dass der Staat sich den Ast, auf dem er sitzt selbst absägt, indem er den Bürgern mit immer weniger rechtlichem Respekt begegnet. Gut, dass nun auch langsam die "berufenen" Entscheidungsträger an den Gerichten sich des Problems bewusst werden. Zumindest wohl in Niedersachsen.



Wolf-Rüdiger Beck

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