Artikel vom 02.07.2019




Zur Entscheidung des BGH vom 27. Juni 2019 - III ZR 93/18

Historie

Nach § 8 Abs. 7 Satz 2 des brandenburgischen Kommunalabgabengesetzes in der Fassung vom 31. März 2004 (= KAG Bbg n.F.) entsteht eine Beitragspflicht frühestens mit dem Inkrafttreten der rechtswirksamen Satzung. In § 8 Abs. 7 Satz 2 der zuvor geltenden Fassung des Kommunalabgabengesetzes (= KAG Bbg. a.F.) fehlte aber noch das Wort "rechtswirksamen". Das Oberverwaltungsgericht für das Land Brandenburg legte diese Fassung des Gesetzes folgerichtig dahin aus, dass für das Entstehen der Beitragspflicht für ein Grundstück der Zeitpunkt des Erlasses der ersten Satzung mit formellem Geltungsanspruch maßgeblich war, unabhängig von ihrer materiellen Wirksamkeit.

Abgaben dürfen gemäß § 2 Abs. 1 KAG nur aufgrund einer Satzung erhoben werden. War diese Satzung - wie es seinerzeit nach der Rechtsprechung der brandenburgischen Verwaltungsgerichte häufig der Fall war - materiell unwirksam, musste nach Auffassung des Oberverwaltungsgerichts eine spätere (wirksame) Satzung auf den Zeitpunkt des Erlasses der ersten unwirksamen Satzung zurückwirken. Dies hatte aber zur Folge, dass die Beitragspflicht, die eine wirksame Satzung erforderte, in vielen Fällen nur für eine "juristische Sekunde" entstand und wegen sofort eintretender rückwirkender Festsetzungsverjährung gleich wieder erlosch. Es drohten Beitragsausfälle in Millionenhöhe.

Die Politik reagierte: In Brandenburg trat zum 01.02.2004 eine "Klarstellung" des Landesgesetzgebers in Kraft, wonach die Verjährung von Anschlussbeiträgen regelmäßig eine wirksame Beitragssatzung voraussetze.

Das BVerfG bewertete jedoch diese "Klarstellung" vor dem Hintergrund der bis dahin ergangenen Rechtsprechung der Landesobergerichte als unzulässige echte Rückwirkung und hielt die Anwendung dieser Vorschrift durch die Zweckverbände und Gerichte für verfassungswidrig. Dies gelte jedenfalls für die Anwendung der Neufassung des Gesetzes auf Fallgestaltungen, in denen unter Zugrundelegung der oberverwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung zur früheren Fassung der Norm Verjährung bereits eingetreten sei.

Bewertung durch den BGH:

Entgegen der Auffassung, die zuletzt der ständigen Rechtsprechung aller Verwaltungsgerichte in Brandenburg entsprach, habe die Verjährung schon immer erst mit dem Inkrafttreten einer wirksamen Beitragssatzung begonnen. Das sei vom Gesetzgeber zum 01.02.2004 tatsächlich nur klargestellt worden. Eine unzulässige Rückwirkung - so erfährt der erstaunte Leser - könne hierin nicht gesehen werden. Die Auslegung der Fachgerichte sei also schlicht fehlerhaft.

Das ergebe sich unter anderem aus der Gesetzeshistorie:
Im Gesetzgebungsverfahren zur ersten Fassung der Norm habe sich der Gesetzgeber ausdrücklich an der wortgleichen Vorschrift im nordrhein-westfälischen Landesrecht orientiert. Nach der seinerzeitigen Auslegung dieser Norm durch die Rechtsprechung der nordrhein-westfälischen Verwaltungsgerichte sei es nicht zweifelhaft gewesen, dass das Entstehen der Beitragspflicht eine in formeller und materieller Hinsicht wirksame Satzung voraussetze.

Erste Zwischenbemerkung:
Der BGH wirft nicht die Frage auf, ob die ursprüngliche Interpretation des OVG NW im Lichte des Grundsatzes von Belastungsklarheit und Belastungsvorhersehbarkeit überhaupt verfassungsgemäß war. Er übersieht auch, dass sich die Rechtsprechung in Nordrhein-Westfalen bis zur grundlegenden Entscheidung des OVG BBG (Urteil vom 8. Juni 2000 - 2 D 29/98.NE -, Juris) längst verfassungskonform verändert hatte. Das OVG war zur Einsicht gelangt, dass es im Hinblick auf den Grundsatz der Einmaligkeit des Beitrages nur auf die formell-rechtliche Wirkung des Beitragsbescheides ankommen könne, nicht aber auf die materiell-rechtliche OVG NW, NVwZ-RR 1996, 600; OVG NW, NWVBl 1998, 410). Das OVG BBG befand sich also - anders als der BGH glaubt - gar nicht im Widerspruch zur Rechtslage in NW.

Der BGH sieht sich nicht an die - nach seiner Ansicht verfehlte Rechtsprechung - des OVG Brandenburg gebunden, denn es fehle im konkreten Fall an der Identität zwischen den Parteien des damaligen Verwaltungs- und des aktuellen Zivilprozesses, in welchem es um Schadensersatz betroffener Bürger nach dem Staathaftungsrecht des Landes Brandenburg gehe.

Es liege nach Auffassung des BGH aber auch kein Dissens zur Entscheidung des BVerfG vor. Dem Votum des BVerfG habe zwar die Auslegung des § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg a.F. durch das zuständige Oberverwaltungsgericht zugrunde gelegen. Dessen Interpretation sei aber aufgrund der Funktionsverteilung zwischen der Fachgerichtsbarkeit und dem Bundesverfassungsgericht nicht wirklich Gegenstand der Überprüfung der Verfassungsbeschwerde gewesen. Das BVerfG habe somit nur geprüft ob unter der gegebenen Auslegung des OVG Brandenburg der Neufassung des § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG eine unzulässige echte Rückwirkung beizumessen sei. Das BVerfG habe sich aber nicht zur Frage verhalten, ob die Auslegung des OVG als solche überhaupt korrekt war.

Zweite Zwischenbemerkung:

Nach den Grundsätzen der beschränkten verfassungsgerichtlichen Überprüfbarkeit fachgerichtlicher Entscheidungen (vgl. BVerfGE 18, 85 <92 f., 96>; 85, 248 <257 f.>) sind die Auslegung und Anwendung des einfachen Gesetzesrechts tatsächlich Aufgabe der Fachgerichte und der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht weitgehend entzogen. Es obliegt den Fachgerichten, im Einzelfall unter Abwägung der konfligierenden Grundrechte der Streitbeteiligten die Grenzen zwischen erlaubten und verbotenen Handlungsformen zu ziehen. Das Bundesverfassungsgericht überprüft - abgesehen von Verstößen gegen das Willkürverbot - nur, ob die fachgerichtlichen Entscheidungen Auslegungsfehler enthalten, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des betroffenen Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs, beruhen (vgl. BVerfGE 18, 85 <92 f.>).
Das ist insbesondere der Fall, wenn die von den Fachgerichten vorgenommene Auslegung der einfachrechtlichen Normen die Tragweite des einschlägigen Grundrechts nicht hinreichend berücksichtigt oder im Ergebnis zu einer unverhältnismäßigen Beschränkung der grundrechtlichen Freiheit führt (vgl. BVerfGE 87, 287 <323>; 106, 28 <45>).

Setzt sich ihre Auslegung jedoch in krassen Widerspruch zu den zur Anwendung gebrachten Normen, so beanspruchen die Gerichte Befugnisse, die von der Verfassung dem Gesetzgeber übertragen sind (vgl. BVerfGE 49, 304 <320>; 69, 315 <372>; 71, 354 <362 f.>; 113, 88 <103>; 128, 193 <209>).
Das Bundesverfassungsgericht entscheidet in Fällen der Abgrenzung von konstitutiven Rechtsänderungen zu deklaratorischen Gesetzesbestimmungen allein über die Verfassungsmäßigkeit der Rückwirkung, nicht über die verbindliche Auslegung des einfachen Rechts, das der Gesetzgeber rückwirkend ändern wollte. Es ist nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, die in diesen Fällen noch nicht höchstrichterlich entschiedene, aber umstrittene Auslegung des einfachen Rechts selbst vorzunehmen (BVerfG. B. v, 17.12.2013, 1 BvL 5/08, Rn 58, juris). Darum ging es hier aber gar nicht, denn die verfassungskonforme Auslegung der alten Fassung des § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG BBG durch das OVG BBG war gefestigt und nicht umstritten. Der brandenburgische Gesetzgeber hatte sich vor allem Sorgen um die für die Zukunft zu erwartenden Beitragsausfälle gemacht.
Kommt es aber für die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes auf die Auslegung und das Verständnis des einfachen Rechts an, erfolgt eine Vollprüfung des einfachen Rechts durch das Bundesverfassungsgericht selbst (B. v, 17.12.2013, 1 BvL 5/08, Rn 50, m.w.N, juris).
Der BGH begibt sich auf ungesichertes Terrain, wenn er unterstellt, dass das BVerfG zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Rechtslage in Brandenburg die hier anstehenden Fragen aus Gründen der Funktionsverteilung nicht im Blick gehabt habe. Wäre die Auffassung des BGH korrekt, dann hätte das BVerfG zum Ergebnis kommen müssen, dass die Auslegung des OVG Brandenburg eine gänzlich unrichtige Anschauung von der Bedeutung des Grundsatzes der Belastungsklarheit und Belastungsvorhersehbarkeit erkennen lasse und dass die Tragweite rechtsstaatlicher Grundsätze hier womöglich verkannt worden sei. Tatsächlich scheint es genau umgekehrt zu sein: Der BGH verkennt offenbar Bedeutung und Tragweite genannter Grundsätze. Dies wird besonders deutlich, wenn der BGH folgendes ausführt:

Auch das aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete verfassungsrechtliche Gebot der Beitragsklarheit und -vorhersehbarkeit gebiete keine abweichende Betrachtung. Vielmehr halte sich die Inanspruchnahme der Kläger in dem vom Landesgesetzgeber zur Umsetzung dieses Grundsatzes gemäß § 19 Abs. 1 Satz 1 KAG Bbg (in der Fassung des Sechsten Gesetzes zur Änderung des Kommunalabgabengesetzes) vorgegebenen Rahmen.

Dritte Zwischenbemerkung:

Eingeführt wurde diese Bestimmung allerdings erst mit dem Sechsten Gesetz zur Änderung des Kommunalabgabengesetzes für das Land Brandenburg vom 5. Dezember 2013 (GVBl. I Nr. 40, S. 1). Darin bestimmt § 19 Abs. 1 Satz 1 KAG, dass Abgaben zum Vorteilsausgleich mit Ablauf des 15. Kalenderjahres, das auf den Eintritt der Vorteilslage folgt, nicht mehr festgesetzt werden dürfen. Aufgrund der Sondersituation nach der Deutschen Einheit ist der Lauf der Frist bis zum 3. Oktober 2000 gehemmt (§ 19 Abs. 1 Satz 3 KAG). In § 20 Abs. 2 KAG wurde bestimmt, dass § 19 n. F. auch für Abgabenbescheide gilt, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Gesetzesänderung noch nicht bestandskräftig sind.

Es ist ausgesprochen fraglich, ob diese Vorschrift sozusagen rückwirkend herangezogen werden kann, um die Ursprungsrichtigkeit der Auslegung des OVG Brandenburg zum KAG zu beurteilen. Zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG BBG gab es dieses Korrektiv bekanntlich noch gar nicht und konnte demzufolge vom Oberverwaltungsgericht auch nicht als Auslegungshilfe herangezogen werden.

Die Entscheidung des BGH verhält sich nicht zur Auslegungsregel, wonach Gerichte die Normen verfassungsgemäß auszulegen haben. Dies können sie aber nur im Kontext der im Zeitpunkt ihrer Entscheidung vorhandenen Systematik auf der Basis des erkennbar vorhandenen Normenzusammenhangs. Die vom BGH nun präferierte Interpretation der ursprünglichen Fassung des KAG mag unter heutigen Gegebenheiten zulässig sein, verstieß aber nach damaliger Rechtslage eindeutig gegen das verfassungsrechtliche Gebot der Beitragsklarheit und -vorhersehbarkeit. Denn sie ermöglichte zeitlich unbegrenzte Beitragserhebungen. Die historisch andere Auslegung des OVG Brandenburg war damals jedenfalls rechtsrichtig und vollkommen verfassungskonform. Daran hat das BVerfG keinen Zweifel aufkommen lassen. Diese Auslegung wird aber nicht durch das spätere Hinzufügen des § 19 Abs. 1 Satz 3 KAG BBG nachträglich unrichtig, wie der BGH nun offenbar meint.

Die hier durchscheinende Auffassung, dass über eine rückwirkende "Heilung" die zunächst mögliche verfassungskonforme Norminterpretation ggf. nachträglich entbehrlich werde, verstößt damit gegen den Grundsatz der Rechtsrichtigkeit. Denn eine solche "Heilung" würde ergebnisverfälschend wirken, wenn ein eigentlich (bei korrekt verfassungskonformer Auslegung) ursprünglich zwingend anderer Rechtsinhalt zunächst in verfassungswidriger Weise umgedeutet wird, um diese Fehldeutung später über eine "Reparatur" rückwirkend von verfassungsrechtlichen Makeln zu befreien und mit einem historisch fehlgedeuteten Rechtsinhalt doch noch wirksam werden zu lassen. Dies bedeutet im Ergebnis nichts anders als eine rückwirkende Anpassung andersrichtigen Rechts.

Konsequenzen für Sachsen-Anhalt:

Interessant ist jetzt aber der Blick auf die Rechtshistorie von Sachsen-Anhalt. Das Minderheitenvotum zum Urteil des LVerfG vom 24.01.2017 hatte unter der Randnummer 108 bereits darauf hingewiesen:
Dem 1991 verabschiedeten KAG LSA diente das Kommunalabgabengesetz Niedersachsens (NKAG) als Vorbild. In weiten Teilen wurde der Text des KAG LSA wortgleich aus dem NKAG übernommen. Das betraf auch die Regelungen zum Entstehen der Beitragspflicht und zur rückwirkenden Änderung von Abgabensatzungen (§§ 2 Abs. 3, 6 Abs. 6 NKAG 1986). Seit den siebziger Jahren gab es zum dortigen § 6 Abs. 6 NKAG die ständige Rechtsprechung des OVG Lüneburg, wonach die Vorschrift dahin zu verstehen sei, dass eine Maßnahme beitragsfrei bleibe, sofern bei Schaffung der Vorteilslage keine beziehungsweise keine gültige Satzung vorliege. Ein Bürger dürfe darauf vertrauen, dass Maßnahmen beitragsfrei bleiben,
die einen besonderen Vorteil für ihn haben und die vor Inkrafttreten einer Abgabensatzung
beendet werden. Notfalls könne die Kommune eine Satzung mit rückwirkender Kraft nachschieben (OVG Lüneburg, Urt. v. 23.08.1989 – 9 L 153/89 –, Rn. 28, juris). Auch dann sei aber die Festsetzungsfrist zu beachten, die schon mit Beendigung der Maßnahme zu laufen beginne (OVG Lüneburg, Beschl. v. 03.05.1999 – 9 L 1856/99 –, Rn. 4 f., juris). Die Materialien zum KAG LSA 1991 enthalten keinerlei Hinweise darauf, dass der Gesetzgeber in Sachsen-Anhalt angesichts weitestgehender Übereinstimmungen mit dem NKAG insoweit etwas anderes gewollt hat.

Vor diesem Hintergrund stützt die Rechtsauffassung des BGH in letzter Konsequenz die Argumente der Minderheitenmeinung des LVerfG, wonach entgegen der Auffassung der Rechtsprechung der hiesigen Landesobergerichte das Erfordernis einer wirksamen Satzung historisch eben nicht vorausgesetzt worden sei, so dass einer späteren Änderung der Charakter einer unzulässigen Rückwirkung beigemessen werden müsste. Der BGH argumentiert, man müsse rechtshistorisch berücksichtigen, aus welchem Bundesland Gesetzestexte übernommen worden seien. Die Herkunftsauslegung und Herkunftsrechtsprechung sei zu berücksichtigen.
Für Sachsen-Anhalt bedeutet dies eine Stärkung des Minderheitenvotums im Urteil des LVerfG vom 24.01.2017.
Der BGH verleiht damit durch seine Argumentation und durch die Bezugnahme auf die Gesetzeshistorie den hier laufenden Verfassungsbeschwerden vor dem BVerfG gegen das KAG LSA damit ungewollt weiteres Gewicht.




Wolf Beck